Liegt der Fernstraßenausbau im überragenden öffentlichen Interesse?

Die Ampel diskutiert zurzeit kontrovers einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren.[1] Schließlich soll ua auch der Fernstaßenausbau privilegiert werden.

Aus der Perspektive des Klimaschutzes ist der geplante § 1 Abs. 3 Fernstraßenausbaugesetz (FStrAbG) entscheidend:

§ 1 FStrAbG

(1) Bau und Ausbau der Bundesfernstraßen sind Hoheitsaufgaben des Bundes. Das Netz der Bundesfernstraßen wird nach dem Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen ausgebaut, der diesem Gesetz als Anlage beigefügt ist.

(2) Die in den Bedarfsplan aufgenommenen Bau- und Ausbauvorhaben entsprechen den Zielsetzungen des § 1 Abs. 1 des Bundesfernstraßengesetzes. Die Feststellung des Bedarfs ist für die Linienbestimmung nach § 16 des Bundesfernstraßengesetzes und für die Planfeststellung nach § 17 des Bundesfernstraßengesetzes verbindlich.

(3) Der Bau oder die Änderung einer Bundesfernstraße, die fest disponiert ist oder für die der Bedarfsplan einen vordringlichen Bedarf feststellt, liegt im überragenden öffentlichen Interesse und dient der öffentlichen Sicherheit.[2]

Der Wortlaut des neuen Absatz 3 knüpft an den in Anlage 1 zum FStrAbG bereits enthaltenen Bedarfsplan, also die erste Stufe der Fachplanungskaskade, für die Bundesfernstraßen an. Dort sind 1360 Bauprojekte genannt. Von den 1360 Projekten sind 185 Projekte „fest disponiert” und weitere 647 Projekte mit einem „vordringlichen Bedarf” gekennzeichnet. Damit würden 832 (185 + 647) Bauprojekte, also knapp zwei Drittel des Bedarfsplanes, nunmehr im „überragenden öffentlichen Interesse” liegen und der „öffentlichen Sicherheit” dienen.

Dies hat weitreichende, noch nicht im Detail absehbare Auswirkungen (I.) und wird durch das Verkehrsministerium unzureichend begründet (II.).

I. Bedeutung des „überragenden öffentlichen Interesses” und der „öffentlichen Sicherheit”

Nach der Intention des Verkehrsministeriums sollen die Prüfungen und Entscheidungen über gegebenenfalls notwendige naturschutzrechtliche Ausnahmegenehmigungen nach § 34 Abs. 4 S. 1 bzw. § 45 Abs. 7 S. 1 Nr. 4 oder 5 des Bundesnaturschutzgesetzes vereinfacht und eine zügige Projektrealisierung gewährleistet werden.[3] Folglich würden für zusammen 832 Bauprojekte Ausnahmegenehmigungen zu Lasten natürlicher Lebensräume und besonders geschützter Tier- und Pflanzenarten pauschal erleichtert werden. Pauschal, weil diese Bauprojekte bereits kraft Gesetzes ein überragendes Gewicht erhalten würden.

Auch außerhalb des Bundesnaturschutzgesetzes wird diese Änderung Konsequenzen haben. Jede Abwägung durch die von den Bauprojekten betroffenen Behörden und jede Prüfung durch die Gerichte müsste als Ausfluss des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips aus Art. 20 GG die neue, durch den Gesetzgeber festgelegte besondere Bedeutung des Fernstraßenausbaus berücksichtigen. Außerdem wäre etwa auch der einstweilige Rechtsschutz der Wiederherstellung, bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Rechtsbehelfe gegen diese Bauprojekte betroffen. In der dafür anzusetzenden gerichtlichen Abwägung des Aussetzungsinteresses mit dem Vollzugsinteresse wäre zugunsten der Vollziehung des Bauprojekts dessen pauschal „überragende” Bedeutung mit zu berücksichtigen.

Nebenbei ist die Änderung identisch mit dem ebenfalls im Entwurf enthaltenen neuen § 1 Abs. 3 Bundesschienenwegeausbaugesetz.[4] Danach liegen die in der Anlage zum Bundesschienenwegeausbaugesetz aufgezählten 37 bereits laufenden und 27 neuen Vorhaben ebenfalls im „überragenden öffentlichen Interesse” und dienen gleichermaßen der „öffentlichen Sicherheit”. Dem Schienenwegeausbau würde damit seitens des Gesetzgebers der grundsätzlich gleiche Stellenwert zugeschrieben wie den 832 privilegierten Bauprojekten der Bundesfernstraßen. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive[5] erscheint es aber zumindest fragwürdig, dass ein Gesetzesvorhaben zwei sich bezüglich des Klimaschutzes diametral gegenüberstehenden Vorgängen unter fast identischer Begründung[6] ein gleichstufiges öffentliches Interesse zuschreibt.

II. Bewertung der Begründung des Ministeriums

Das Verkehrsministerium begründet dies alles mit der „herausragenden Bedeutung einer leistungsfähigen Fernstraßeninfrastruktur für das Gemeinwohl” und verweist auf die Notwendigkeit der Straße für den Transport, der von anderen Verkehrsträgern nicht bewältigt werden könne, gerade auch, wenn diese aufgrund von Überlastung oder Umwelteinflüssen dazu nicht in der Lage seien.[7]

Das ist erkennbar zu kurz gedacht. Die Überlastung anderer Verkehrsmittel ist nicht festgeschrieben. Ihr kann durch stärkere Investitionen entgegengewirkt werden. Gleichzeitig resultiert die Intensität und Frequenz der nachteiligen Umwelteinflüsse auf die Infrastruktur unmittelbar aus dem Klimawandel, der wiederum durch die 832 privilegierten Bauvorhaben der Fernstraßen mit teilweiser Kapazitätserweiterung weiter forciert wird. Überspitzt formuliert führt damit der Klimawandel zu mehr Fernstraßenausbau zu mehr Klimawandel zu mehr Fernstraßenausbau. Das Verkehrsministerium begründet daher paradoxerweise das überragende Interesse an dem Fernstraßenausbau ua mit der unzureichenden Investition in die Schiene und den Folgen des Klimawandels.

Des Weiteren wird das Nachhaltigkeitsziel 9.1 der UN-Agenda 2030[8], nämlich der Aufbau einer hochwertigen, verlässlichen, nachhaltigen und widerstandsfähigen Infrastruktur, als Begründung herangezogen.[9]

Hier betreibt das Verkehrsministerium Rosinenpicken mit den Nachhaltigkeitszielen der UN-Agenda 2030. Genauso weit, wie die Priorisierung des Fernstraßenausbaus der Infrastruktur aus dem Ziel 9.1 dient, steht sie im offenen Widerspruch zu dem Ziel 13, dass den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius begrenzt.

Weiterhin fehlt es an der Umsetzung eines „Subsidiaritätsmechanismus“ oder ähnlichem, ohne den das Fernstraßengesetz und das FStrAbG nichts zum 1,5 Grad Ziel beitragen.[10] Anforderungen an den Bundesverkehrswegeplan wurden nicht genauer ausgestaltet, dh es richtet sich hier weiter primär nach dem Investitionsbedarf der Länder.[11] So führt die durch den Ausbau gesteigerte Attraktivität der Straße wiederum zu einer vermehrten Nutzung, womit der Fernstraßenausbau einer selbsterfüllenden Prophezeiung ähnelt.[12] Das Verhältnis zu den Klimaschutzzielen der Bundesregierung und ihrer Berücksichtigung im Verfahren ist noch ungeklärt.[13]

Bei den hier zur Verfügung gestellten Inhalten handelt es sich in erster Linie um Einführungsmaterialien und Orientierungshilfen. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit und Richtigkeit gestellt. Keinesfalls soll hierdurch eine professionelle, individuelle juristische Beratung ersetzt oder Gewähr dafür übernommen werden, dass im Streitfall den hier dargelegten Ansichten gefolgt wird.


Quellen:

[1] „Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2021/1187 über die Straffung von Maßnahmen zur rascheren Verwirklichung des transeuropäischen Verkehrsnetzes (TEN-V)“, 9.11.2022.

[2] Entwurf (En. 1), 15.

[3] Entwurf (En. 1), 67.

[4] Entwurf (En. 1), 23.

[5] BVerfG NJW 2021, 1723.

[6] Entwurf (En. 1), 66 f. und 74.

[7] Entwurf (En. 1), 66 f.

[8] Vereinte Nationen, Ziele für nachhaltige Entwicklung Bericht 2022, https://www.un.org/Depts/german/millennium/SDG-2022-DEU.pdf.

[9] Entwurf (En. 1), 41.

[10] So zB German Zero, 1,5-Grad-Gesetzespaket, 2. Aufl. 2022, 690 ff.; Stellungnahme des BUND e.V., siehe https://www.bund.net/mobilitaet/fernstrassen-neubau-stoppen/; vgl. https://www.umweltbundesamt.de/themen/verkehr-laerm/klimaschutz-im-verkehr#tempolimit.

[11] German Zero, 1,5-Grad-Gesetzespaket, 2. Aufl. 2022, 691 f.

[12] German Zero, 1,5-Grad-Gesetzespaket, 2. Aufl. 2022, 691, 694.

[13] Vgl. Müller/Schulz, Bundesfernstraßengesetz/Pokorni, 3. Aufl. 2022, § 17 Rn. 114b f.; vgl. Fellenberg/Guckelberger, Klimaschutzrecht/Fellenberg, 2022, KSG § 13 Rn. 26.

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